tschechische Kunst

tschechische Kunst
tschẹchische Kunst,
 
die Kunst auf dem Territorium der heutigen Tschechischen Republik (Böhmen, Mähren, Mährisch-Schlesien). Von Beginn an war sie geprägt von den verschiedenen Kulturen der auf diesem Gebiet siedelnden zahlreichen ethnischen Gruppen. Erste Zeugnisse mittelalterlicher Kunst stammen aus der Zeit des Großmährischen Reiches.
 
Die frühesten erhaltenen Denkmäler der Baukunst aus Stein sind kleine Rundkirchen aus dem 9. Jahrhundert; die 926-929 als Rotunde errichtete Gründungskirche Sankt Veit in Prag war richtungweisend für spätere Zentralbauten (Burgkapelle in Znaim, 11. Jahrhundert). Im 10. Jahrhundert entstanden die ersten Klosterkirchen nach basilikalem Vorbild (Sankt Georg in Prag, um 920). Die Klosterkirche (1240-60) in Trebitsch vereinigt romanische und gotische Stilelemente. Der erste rein gotische Bau in Böhmen ist die Franziskuskirche (1240-50) des Agnesklosters in Prag. Ihren Höhepunkt erreichte die mittelalterliche Baukunst mit dem (3.) Neubau des Prager Sankt-Veits-Domss (1344 begonnen, 1353 oder 1356 von P. Parler fortgeführt). Ein hervorragendes Beispiel spätgotischer Baukunst ist der Wladislawsaal im Königspalast der Prager Burg von B. Ried (1486-1502). Bau und Ausstattung der Barbarakirche in Kuttenberg (um 1380 von P. Parler begonnen, 1585 vollendet) leiten bereits zur Renaissance über.
 
Zu den bedeutenden Beispielen mittelalterlicher Plastik gehören die Portale der Klosterkirchen in Trebitsch und Tišnov-Předklášteří bei Brünn, Skulpturen des Meisters der Madonna von Michle (um 1340; Prag, Národní Galerie), die Schönen Madonnen (Krumauer Madonna, um 1390 bis um 1400; Wien, Kunsthistorisches Museum), Werke des Meisters der Beweinung von Žebrák (1500-10; Prag, Národní Galerie).
 
Die Malerei mit hervorragenden frühen Zeugnissen v. a. in Miniaturen (Codex aus Vyšehrad, 1085; Prag, Universitätsbibliothek) und Wandmalereien (Přemyslidenzyklus in der Burgkapelle in Znaim, 1134) gelangte wie die Baukunst unter dem in Prag residierenden Kaiser Karl IV. zu hoher Blüte (Wandmalereien im Emmauskloster in Prag, nach 1360). Tommaso da Modena und Theoderich von Prag malten auf der Burg Karlstein, der Meister von Hohenfurth und der Meister von Wittingau in Südböhmen. Hohe Qualität erreichte auch die böhmische Buchmalerei des 14. Jahrhunderts (Liber Viaticus des Johannes von Neumarkt, um 1355/60; Prag, Národní Muzeum). Bedeutendster Maler der Spätgotik in Böhmen war der Meister des Altars von Leitmeritz (um 1500; erhaltene Teile Leitmeritz, Galerie výtvarného uměni).
 
Die italienische Renaissancearchitektur hatte wesentlichen Einfluss auf die Profanbauten (Belvedere in Prag, 1536 ff.; Schlösser in Leitomischl und Teltsch, 2. Hälfte 16. Jahrhundert; Rathaus in Pilsen, 1554-74). Malerei und Plastik wurden zur Zeit des Manierismus besonders gefördert unter Rudolf II., für den u. a. G. Arcimboldo, H. von Aachen, J. Heintz der Ältere, B. Spranger und A. de Vries tätig waren.
 
Eine weitere Blütezeit der tschechischen Kunst ist die Zeit des böhmischen Barock. Die Architektur wurde tief greifend mitgeprägt von italienischen Baumeistern wie C. Lurago (Klementinum in Prag, 1654-58), G. B. Alliprandi (Spitalkirche in Kuks bei Jaroměř, 1707-17) und G. Santini, der Formen des Barock und der Gotik miteinander verband (St.-Johannes-Nepomuk-Wallfahrtskirche auf dem Grünen Berg bei Žd'ár nad Sázavou, 1719-22), von den Wiener Architekten J. B. Fischer von Erlach (Palais Clam-Gallas in Prag, 1713-19; Schloss Frain in Süd-Mähren, 1688 ff.) und J. L. Hildebrandt (Sankt Laurentius in Jablonné v Podještědí, Nordböhmisches Gebiet, 1699 ff.) sowie von Mitgliedern der süddeutschen Baumeisterfamilie Dientzenhofer (Sankt-Nikolaus-Kirche in Prag, 1703-11 und 1737-53).
 
Die Barockskulptur gipfelte in den expressiven Schöpfungen M. Brauns und im eher realistischen Werk F. M. Brokoffs. Namhafte Vertreter der Barockmalerei waren K. Škréta Šotnovský, J. C. Liška, J. Kupecký und P. J. Brandl. W. L. Reiner und N. Grund öffneten sich den Einflüssen des Rokoko.
 
Im 19. Jahrhundert setzte unter dem Einfluss der Idee der nationalen Wiedergeburt mit monumentalen Historienbildern sowie patriotische Landschaften (Antonín Mánes, * 1784, ✝ 1843) eine nationale Strömung ein. J. Mánes ist der Hauptvertreter einer romantischen Richtung. J. Navrátils Werke tragen impressionistische Züge. Soběslav Hippolyt Pinkas (* 1827, ✝ 1901), J. Čermák, K. Purkyně und Viktor Barvitius (* 1834, ✝ 1902) orientierten sich v. a. am französischen Realismus. Den Höhepunkt nationaler betonter Kunst bildeten Bau und Ausstattung des Prager Nationaltheaters (1868-81, von J. Zítek). Zu den an seiner Ausschmückung beteiligten Künstlern gehörten die Landschaftsmaler A. Chittussi, die Historienmaler M. Aleš und V. Brožík sowie der Bildhauer J. V. Myslbek. A. Slavíček gelangte zu einer sehr persönlichen Auffassung des Impressionismus. A. Mucha erlangte internationale Anerkennung mit Jugendstilplakaten. Von Symbolismus beziehungsweise Jugendstiltendenzen geprägt sind die frühen Bilder Max Švabinskýs (* 1873, ✝ 1962), Gemälde J. Preislers, das plastische Werk F. Bíleks sowie die frühen Skulpturen J. Štursas. Der Maler R. Kremlicka wandte sich dem Neoklassizismus zu.
 
Als Begründer der modernen tschechischen Architektur des 20. Jahrhunderts gilt J. Kotěra. Die Maler E. Filla, A. Procházka, B. Kubišta, V. Špála und J. Čapek sowie der Bildhauer O. Gutfreund begründeten den tschechischen »Kuboexpressionismus«. Der Kubismus erfuhr auch in der Architektur eine spezielle Ausprägung durch Josef Chochol (* 1880, ✝ 1956), J. Gočár und P. Janák, die sich später dem Funktionalismus zuwandten. Eine soziale Ausrichtung erhielt der Funktionalismus v. a. durch B. Fuchs, J. Havlíček und J. Krejcar. F. Kupka war in Paris an der Entwicklung einer »orphistischen« abstrakten Malerei beteiligt.
 
Aus Mitgliedern der 1920 gegründeten avantgardistischen Künstlervereinigung »Devětsil« (K. Teige, J. Šíma, Toyen, J. Štyrský, F. Muzika) entstand 1934 die Prager Surrealistengruppe. Abseits der maßgeblichen Kunstströmungen stand J. Zrzavý mit symbolistischen, imaginativen Bildern. Die Bildhauer V. Makovský, Hana Wichterlová (* 1903, ✝ 1990) und Josef Wagner (* 1901, ✝ 1957) traten in den 30er-Jahren mit abstrakten Plastiken hervor. Besonders unter dem Eindruck der deutschen Besetzung der Tschechoslowakei schufen die Mitglieder der 1939 gegründeten Gruppe »Sieben im Oktober« sowie der 1942 gebildeten »Gruppe 42« (F. Gross; František Hudeček, * 1909, ✝ 1990; Kamil Lhoták, * 1912, ✝ 1990) sozial und politisch engagierte Bilder. J. Lada und J. Trnka waren mit ihren Illustrationen auch im Ausland erfolgreich. Bis in die Gegenwart gilt die tschechische Illustration und Buchkunst als beispielhaft (u. a. J. Šalamoun). Auf dem Gebiet der Fotografie fand v. a. J. Sudek internationale Anerkennung.
 
In den 50er-Jahren lebten avantgardistische Tendenzen in Form der Gruppen »Trasse« und »Mai« weiter. Die tschechische Kunst wurde v. a. repräsentiert durch die Maler und Grafiker J. Istler, Čestmir Kafka (* 1922, ✝ 1988), M. Medek, Z. Sykora, František Ronovský (* 1929), Theodor Pištěk (* 1932), Adriena Simotová und J. Anderle sowie die Bildhauer V. Janoušek, K. Malich und Stanislav Kolíbal (* 1925).
 
Die Doktrin des sozialistischen Realismus und die Repressionen nach der sowjetischen Intervention (1968) zwangen eine Reihe bedeutender Künstler zur Emigration, darunter M. Moucha, J. Kolař, J. Dokoupil und die Bildhauerin Magdalena Jetelová.
 
Unter den Künstlern der jüngeren Generation profilierten sich besonders die Maler Jiří Sopko (* 1942), Ivan Ouhel (* 1945), Vladimír Novák (* 1947), Václav Bláha (* 1949) und die Bildhauer Kurt Gebauer (* 1941), Petr Oriešek (* 1941) und Jiří Beránek (* 1945) sowie der Maler und Bildhauer Jiří Sozanský (* 1946). Eine oppositionelle tschechische Fluxusbewegung konzentrierte sich um Milan Knižak (* 1940). Die in den späten 80er-Jahren gegründeten, vorwiegend konzeptionell arbeitenden Künstlergruppen »Tvrdohlavi« (Jiří Kovanda, * 1953; J. Rona; M. Gabriel; S. Diviš; F. Škala; Jiří David, * 1956) und »Ponděli« (u. a. Milena Dopitová, * 1963; Petr Pisařík, * 1968) orientierten sich bereits an der westlichen Postmoderne. Zu den wichtigsten Leistungen der tschechischen Architektur nach 1945 gehören die Bauten von Jan Šrámek (* 1924, ✝ 1978), Alena Šrámková (* 1925) und Jan Bocan (* 1937). Gegenwärtig dominiert die Restaurierung der zahlreichen historischen Stadtkerne. Bei den Neubauten zeigt sich zum Teil eine Rückbesinnung auf die Traditionen der Moderne der 20er- und 30er-Jahre (u. a. kleinere Hallenbauten von Josef Pleskot in der Umgebung von Prag, von Jiří Adam und Martin Pánek in Brünn, Bürohhäuser und -umbauten von Jaroslav Šafer und OMICRON K [Martin Kotík, Václav Králiček, Vladimír Krátiký] in Prag, tschechischer Pavillon auf der Expo in Sevilla, 1992, von Martin Némeč und Ján Stempel). Brünn öffnet sich besonders stark auch jüngeren Architekten (Aleš Burian, Petr Pelčak, Jiří Hruša, Jan Sapák, Petr Křivica).
 
 
Barock in Böhmen, hg. v. K. M. Swoboda (1964);
 
Romanik in Böhmen, hg. v. E. Bachmann u. a. (1977);
 
Die Parler u. der Schöne Stil 1350-1400, hg. v. A. Legner, Ausst.-Kat., 6 Tle. (1978-80);
 
T. K. 1878-1914 auf dem Weg in die Moderne, Ausst.-Kat., 2 Bde. (1984);
 
Prag um 1600. Beitrr. zur Kunst u. Kultur am Hofe Kaiser Rudolfs II., Ausst.-Kat., 3 Bde. (1988);
 
T. K. der 20er + 30er Jahre - Avantgarde u. Tradition, hg. v. B. Krimmel, Ausst.-Kat., 2 Bde. (1988);
 
Prager Barock, bearb. v. J. Novotný, Ausst.-Kat. (Wien 1989);
 
Photographie der Moderne in Prag, 1900-1925, bearb. v. M. Faber u. a., Ausst.-Kat. (Schaffhausen 1991);
 
Tschech. Kubismus. Emil Filla u. Zeitgenossen, bearb. v. G. Sonnenberger (1991);
 
1909-1925, Kubismus in Prag. Malerei, Skulptur, Kunstgewerbe, Architektur, hg. v. J. Svestka u. T. Vlcek, Ausst.-Kat. Kunstverein für die Rheinlande u. Westfalen, Düsseldorf (1991);
 
Tradition u. Avantgarde in Prag, bearb. v. K. Thomas u. a. (1991);
 
Tschech. Kubismus. Architektur u. Design 1910-1925, hg. v. A. von Vegesack, Ausst.-Kat. (1991);
 
Prager Jugendstil, hg. v. B. Scheffran, Ausst.-Kat. (1992);
 
Vergangene Zukunft. Tschech. Moderne 1890 bis 1918, Ausst.-Kat. Künstlerhaus Wien (1993);
 
Zweiter Ausgang. Tschech. u. slowak. Künstler, hg. v. J. Ševčíková u. J. Ševčík, Ausst.-Kat. Ludwig-Forum für Internat. Kunst, Aachen (1993);
 
Video vidím ich sehe. Slovenské, české a švajčiarske videoumenie, hg. v. E. M. Jungo u. a., Ausst.-Kat. Považská Galéria Umenia, Žilina (Bern 1994).

Universal-Lexikon. 2012.

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